Einführungsrede von Helmut Kesberg zur Eröffnung der XVIII. Deutschen Internationalen Grafik-Triennale

Die Deutsche Internationale Grafik-Triennale Frechen wird seit 1970 vom Kunstverein zu Frechen e.V. gemeinsam mit der Stadt Frechen veranstaltet, und seitdem trägt sie ihren etwas pompös wirkenden Titel, mit dem sich der Kunstverein damals von den vermeintlich drohenden Konkurrenzgründungen abzusetzen versuchte.  Gegründet von Kunstliebhabern,  zu Beginn einer Blütezeit des Grafiksammelns, als einzelne Blätter in Auflagen von einhundert gedruckt wurden,  mit einer kaum noch überschaubaren Teilnehmerzahl von damals mehreren hundert Künstlern, hat sich diese Wettbewerbsausstellung mit den Jahren gewandelt. Ihr Ziel ist seit 2005 insbesondere die Förderung der zeitgenössischen internationalen Druckgrafik und die Förderung junger Künstlerinnen und Künstler.

In einer ganzen Serie von Zeichnungen, Gemälden und Lithographien hat vor ungefähr 150 Jahren Honoré Daumier, der ja als bissiger Satiriker der französischen Gesellschaft des zweiten Kaiserreichs bekannt ist,  einen Grafiksammler  dargestellt, ganz entgegen seiner Gewohnheit einmal nicht karikaturenhaft überzeichnet. Der „Druckgrafikliebhaber“, „L’amateur d’estampes“, bückt sich tief, um weltvergessen, andächtig, vielleicht auch etwas besessen in einer Grafikmappe zu blättern, einer Mappe, wie jene, die auch heute noch am Seineufer vor den grünen Verschlägen der Bouquinisten stehen. Daumier hatte allen Anlass dazu, seinen Spott hier zurückzuhalten, denn er war nicht nur selber ein Sammler, er lieferte mit seinen hunderten von Lithographien den Nachschub für die Liebhaber, er lebte davon, und zwar gut.  Die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts war ein

Höhepunkt des Grafiksammelns in Frankreich.  Warum beginne ich damit? Nicht allein, weil ich Daumier über alles schätze, sondern weil die Verhältnisse heute so ganz anders sind als damals, als die erschwingliche künstlerische Druckgrafik dem Kleinbürgertum half, die Wohnzimmer zu dekorieren. Heute besorgen das die tausendfach kopierten Foto-Ikonen der Einrichtungsdiscounter.

Wer die grafischen Werkstätten bereist, kommt zwar oberflächlich zu der Auffassung, dass die Grafikszene blüht und gedeiht.  Dies täuscht aber darüber hinweg, dass auf Messen, in Ausstellungen und Galerien Druckgrafik eine eher marginale Rolle spielt.  Künstlerische Druckgrafik steht heute weniger im Fokus der Aufmerksamkeit eines kunstinteressierten Publikums als andere Kunstsparten wie die Malerei. Sie wird produziert von einem eher kleinen Kreis von Experten, die sich ihr handwerkliches Wissen und Können in langen Jahren angeeignet haben und die ihre Werke mit zum Teil beträchtlichem Aufwand herstellen.  Der Genuss mancher Grafik erfordert eine hohe Sachkenntnis der Betrachter, ähnlich wie das Anhören eines klassischen Streichquartetts Kennerschaft voraussetzt.   Man kann sich daran erfreuen und sich mit Thema und Motiv auseinandersetzen, aber wer diese richtig wertschätzen will,  muss sich schon ein gewisses Verständnis erarbeitet haben.  Die grafischen Werkstätten, an denen ausgebildet wird, stehen nicht im Vordergrund bei Beliebtheit und Publikumswirksamkeit an den Akademien.  Wer als Künstlerin oder Künstler eine Strategie des Aufmerksamkeitsmanagements für sich entwickeln will, der Begriff wie sein Inhalt ist eine der unsäglichen Sumpfblüten des heutigen Kunstbetriebs, der tut dies kaum mit Grafik.

Anders war dies zu der Zeit, als Grafik noch das Medium war, mit dem propagandistische, kritische, oft auch politische Botschaften schnell und breit gestreut wurden.

Seit etwa der Jahrhundertwende 1900 hat die Grafik nicht mehr die Hauptaufgabe, Originalwerke zu reproduzieren.  Das war einige hundert Jahre tatsächlich die Aufgabe spezieller Reproduktionsgrafiker, die z.B. Stiche nach Rubens herstellten, damit sie erschwinglich dem Bürgertum angeboten werden konnten.  Die ab Mitte des 19. Jhdts. aufgekommene Fotografie hatte der Grafik schon die wirtschaftlich lukrative Aufgabe abgenommen, Wirklichkeit und auch Kunstwerke zu reproduzieren und einem breiten Publikum zugänglich zu machen.  Offset- und Rotationsdruck, dann Fernsehen und Internet, kurz: die immer neuen „neuen Medien“ nahmen dann  der Grafik auch noch  die gesellschaftliche Funktion weg, schnell über Geschehnisse zu informieren, mal reportagehaft, mal aufklärerisch-agitatorisch.

Dieser Verlust  ließ für die Grafik die Nische „künstlerische Druckgrafik“ entstehen. Ein Glücksfall.  Sie konnte sich, von den dienenden Aufgaben befreit,  ganz auf die freie künstlerische Gestaltung konzentrieren.

Wenn ich von „künstlerischer Druckgrafik“ spreche,  tue ich so, als könne man diesen Begriff klar definieren.  Doch das ist immer weniger möglich.   Stimmt es denn, dass nur das künstlerische Druckgrafik ist, was  aus keinem anderen Anlass hergestellt wurde, als  dem, um jenseits von wirtschaftlichen Verwertungszusammenhängen betrachtet zu werden?  Inwiefern gelingt es Grafikkünstlern, mit ihren Mitteln eine künstlerische Antwort auf drängende  existenzielle Fragen unserer Zeit zu geben und sich damit als zeitgenössisch zu verorten?  Sie können sich in dieser Ausstellung selbst ein Bild davon machen.

Auch Bereiche der Gebrauchsgrafik, wie die Buchkunst oder die Plakatkunst, bringen Werke von höchster Qualität hervor, denen man den Charakter eines grafischen Kunstwerkes nicht versagen kann, gleiches gilt für grafische Gestaltungen in Printmedien und Illustrationen.  Motivgestaltung und technische Verfahren in Gebrauchsgrafik und künstlerischer Druckgrafik wachsen aufeinander zu und durchdringen sich.

Zurück zu unserer Ausstellung. Viele Bewerber gaben  als Technik war „Inkjet“ oder „Pigmentdruck“ an.  In einigen Fällen waren das durchaus wirksame  Bilder,  deren Produktionsverfahren sich als gekonnte Anwendung von Bildbearbeitungsprogrammen erwies. Computergesteuerte Drucker ermöglichen brillante Abzüge, sogar auf Bütten.  Aber wo beginnt jenseits der technischen Brillanz der originelle künstlerische Ausdruck? Bei näherem Hinsehen stellten sich der Vorjury und später der Auswahljury die Frage nach dem künstlerischen Mehrwert. Was wurde an absichtsvoller künstlerischer Formung dem vorgefundenen Stück Wirklichkeit oder dem mittels Fotografie eincollagierten Element hinzugefügt?

Was ist Druck, wenn kein Druckstock mehr da ist, was ist noch ein Originalabzug?  Für die Jury galt als oberstes Prinzip der originelle, eigenständige  künstlerische Ausdruck.  Auch Monotypien und Arbeiten auf der Basis von Materialdruck gehören zur künstlerischen Druckgrafik.  Früher forderten manche Ausstellungsorganisatoren, eine gewisse Zahl gleicher Abzüge nachzuweisen, als Beweis, dass es sich um Druckgrafik handele.  Das gibt es schon lange nicht mehr. Der Trend geht immer mehr zur ganz kleinen Auflage, oder zum Unikat.

Die Revolution der Medientechnik  bringt Schlag auf Schlag technische Innovationen mit sich.  Das erschließt auch der Grafik immer neue Wiedergabetechniken.  Die Zahl der nicht standardisierten Technikbezeichnungen, mit denen Künstler ihre Werke versehen, ist unüberschaubar. Bei den meisten Werken war die Fotografie zumindest bei der Motivauswahl beteiligt. Bei einer Reihe von ihnen wurden fotomechanische oder fotochemische oder digitalisierte Verfahren im Herstellungsprozess eingesetzt.

Wir finden Transfer-Aqutinta, Linoldruck auf schwarzem Acrylglas, Strichätzung und Papiercollage, Photogramm und Photogravure, Linoldruck wird mit Lösemittelschüttung kombiniert, heimische Insekten werden direkt auf das lichtempfindliche Sieb belichtet,  Mezzotinto wird mit Papierschnitt, Perforation und Espresso-Färbung – was ist das? –  kombiniert. Mehr als einmal fragte sich die Jury: wie ist das gemacht – und das war selbst für den versiertesten Betrachter ein Rätsel –  und Sie als Besucher können sich die gleiche Frage stellen. Doch ein raffiniertes oder aufwendiges Herstellungsverfahren garantiert noch nicht  ein gelungenes Werk. Es darf sich nicht in Technik erschöpfen.  Auch das Schwierige sollte leicht aussehen.

Die Frage, ob ein bestimmtes Werk Druckgrafik ist, die in mancher Jurysitzung aufkam, könnte also bald nur noch eine akademische sein, denn die muntere Welt der jungen Produzenten schert sich nicht um Gattungsgrenzen. Da gibt es ein Kreuz und Quer von Druck und Film,  da druckt man auf  unterschiedlichste Materialien wie Stoff und Plexiglas, zerschneidet aufwendigst erstellte Radierungen und collagiert sie neu.

Aber es wundert doch, dass  die meisten Werke, die die Hürden zweier Jurys überwunden haben, aus dem Bereich der traditionellen Techniken kommen, manchmal in Mischformen: Holzschnitt, der fast ausgestorben geglaubte Holzstich,  Linolschnitt, Radierung,  Siebdruck, Lithographie.

Wer die Grafikvernissagen in deren Zentren, Leipzig, Halle, Kattowitz, Krakau, Berlin, Düsseldorf, Stuttgart  besucht, kann sich davon überzeugen, dass es sich um eine überraschend junge Szene handelt.   Themen und  Herstellungstechniken nähern sich auch international einander an. Die Globalisierung im Internetzeitalter bewirkt, dass jeder überall alles sehen kann, was die Kollegen produzieren.  Neben dem World Wide Web sind es die an Zahl zunehmenden Artist-in-Residence-Programme und die als Austauschplattformen genutzten internationalen Biennalen, welche Künstlern Positionen anderer Länder nahebringen.  Jenseits der Globalisierung von Themen, Motiven, Techniken gibt es weiterhin  die Auseinandersetzung mit nationalen und regionalen Fragestellungen, mit der landesspezifischen politischen und gesellschaftlichen Realität.

Technische Brillanz allein genügt nicht, wenn nicht eine überzeugende künstlerische Idee hinzukommt. Eine Vielzahl der ausgestellten Arbeiten besticht geradezu durch ihre frappierende handwerkliche Souveränität, verbunden mit einer eigenständigen künstlerischen Formensprache. Unter inhaltlichen Aspekten fällt auf, dass politisch, wirtschaftlich und sozial relevante Themen nach wie vor, aber nicht mehr so häufig thematisiert werden, statt plakativ oft rätselhaft oder verschlüsselt.

Von der jüngeren Generation wird die Grafik weniger als Medium einer eindeutigen Botschaft verstanden als vielmehr als  ein Feld, auf dem Erkundung und Durchdringung von Welt, und sei es der biografischen, möglich wird.

Die Jury hat den ersten Preis Annegret Frauenlob aus Halle an der Saale zuerkannt, für ihr Grafikbuch, in dem sie einer utopischen Erzählung des Schriftstellers Stanislaw Lem auf kongeniale Weise künstlerischen Ausdruck gibt.  Lem schildert eine Reise auf einen fernen Planeten, der von zwei militaristischen Autokraten beherrscht wird, da klirrt es nur vor metallischem Waffenrasseln. Als Buchkünstlerin hat sie das gekonnt mit  den passenden Schriften und in den passenden metallisch glänzenden Druckfarben umgesetzt.  Die martialisch, aber auch spielerisch anmutenden Figuren sind im Materialdruck aus Modulen zusammengesetzt, Kopf, Augen und Gliedmaßen, für alles dienen die Elemente des Märklin Stabilbaukastens als Druckstempel, eigentlich ein klassisches Jungenspielzeug, aber die Künstlerin selbst lernte ihn in ihrer Kinderzeit schätzen.  Den einzelnen Bildern, die in wunderbarer Handwerksarbeit zu einem Buch zusammengesetzt sind, das man nur zu gern öffnen und berühren möchte, eignet die erschreckende Ausstrahlung einer militaristischen Dystopie, einer Zukunft, die wir vorahnen können, wenn wir die Zeitung aufschlagen, aber es eignet ihnen auch  etwas Märchenhaftes, Träumerisches, das uns an altes Kinderspielzeug, wie den Hampelmann, erinnert.  Die Künstlerin nimmt mit dieser ironischen Heiterkeit bereits den Schluss der Erzählung „Die Falle des Gargancjan“ vorweg,  in dem die sich drohend gegenüberstehenden Armeen auf einmal mit „allumfassendem Wohlwollen“ zu lächeln beginnen.  Wir hatten selten eine Arbeit, in der eine innovative Gestaltung, hier mit traditionellen Mitteln, so originell mit Literatur und Poesie verbunden wurde. Das hat die Jury überzeugt.

Tobias Gellscheid, der Träger des zweiten Preises, ebenfalls aus Halle an der Saale,  entführt uns mit seinen meisterlich  im kaum noch gebräuchlichen Holzstichverfahren geschnittenen und gedruckten  Bildern in eine düstere Welt, in der es nur wenig Licht gibt, grelles Schlaglicht, das die rätselhaften Geschehnisse wie mit Bühnenscheinwerfern hervorhebt.  Gellscheid holt sich seine Bildmotive aus alten Fotoalben, aber auch aus dem Internet, baut daraus Collagen, deren einzelne Elemente uns auf widersprüchliche Spuren verweisen. Ein hinter dem Ochsenpfluggespann hergehender Bauer, in der Ferne ein Fachwerkhaus, auf dem sich ein Lichtstrahl ergießt, der aus dem Altdorferhimmel hervorbricht.  Eine Pseudoidylle mit allgegenwärtigem Bedrohungspotenzial.  Wie er verwischte Bewegung in den Holzstich hineinbringt,  den man zu Unrecht starr nennt, das lässt sich beim pflügenden Bauern ebenso bewundern wie bei dem an uns vorbeirauschenden  Karussell, an dessen Rand wir  Jugendliche mit vor Schmerzlust verzerrten Gesichtern sehen,  exaltiert, auch das ein sich wiederholendes Motiv.  Mit dem Bauern legt er eine täuschende völkische Blut- und Boden-Fährte, wie er dem WK-I-Soldaten mit dem Papierwindmühlchen in der Hand und dem Rotor auf dem Kopf den Fraktur-Untertitel „Freude“ verschreibt und uns damit wiederum seltsame Assoziationsketten ins Hirn jagt.  Ein Fake eines Fakes? Und das alles in prächtigem sattem Schwarz gedruckt, meisterhaft wie aus der Zeit gefallen.

Lukas Koniuszy aus Bytom in Polen überwältigt uns  mit seinen Architektur-Radierungen. Klassizistische Gebäude mit giebelbekrönten Fenstern, als wären sie von Palladio konstruiert und von Piranesi gestochen, Gebäude, die nur ein phantastischer oder durchgedrehter Architekt erfinden kann. Rundtürme, aus deren Fenstern in die Dunkelheit Laufstege herausragen und deren Etagenringe sich abheben, bevor sie zu schweben anfangen. Babylonische Türme, die mit einem Gewirr von Treppenwegen verbunden sind und aus deren Zwischenräumen schwarze Glaskuben herausschauen, die aus einer anderen, futuristischen Welt stammen könnten.  Eine geknickte Fassade eines Hochhauses, wir vermögen nur einen Ausschnitt von 10 Etagen zu überblicken, es können viel mehr sein, wie von einem Büroturm, aber mit Fenstern wie aus der Renaissance. Was ist los mit dieser Architektur? Was hat sie noch mit dem Menschen zu tun? Dem Menschen, der auf den beschriebenen Blättern nicht vorkommt?  Koniuszy geht von einer konkreten Stadt aus,  dem 170.000 Einwohner großen Bytom, früher Beuthen in Oberschlesien, einer geschichtsträchtigen Stadt mit vielen großartigen Gebäuden, in der er selbst seit gut 30 Jahren lebt. Aber er versteht die Stadt als Metapher für einen lebendigen Organismus, der entsteht, seine Blütezeit hat und der niedergeht. Bytom liegt in einem Gebiet intensiven Kohlebergbaus, mit hoher Arbeitslosigkeit und großen Zukunftsproblemen. In dieser wirtschaftlich und gesellschaftlich problematischen Situation entwirft der Künstler seine Vision von Stadt, ausgehend vom Stadtbild Ende des 19. Jahrhunderts, konzentriert er sich auf drei Strukturen, eine zylindrische Struktur, eine sakrale Struktur und die Wohnstruktur.  Ihn interessiert der Eindruck des Monumentalen und was dieser mit den Menschen macht, die diese Gebäude betrachten und in ihnen leben.

Ich nenne noch drei Künstler, die mit einer ehrenvollen Erwähnung bedacht wurden und deren Arbeiten Sie unbedingt näher anschauen sollten.

Frédéric Guille, der aus Strasbourg stammt und seit längerem in Leipzig arbeitet,  führt uns in die Welt der Kapitalanlagen, die uns aus den optimistischen Inseraten der Wirtschaftsseiten entgegenlächeln und -schreien.  „Vorsorgen und absichern“, einer unter vier Holzschnitten mit Monotypie, überzeichnet karikaturenhaft das Zukunftslächeln des jungen Paares und des älteren Bruders,  die das junge Baby  für die kapitale Zukunft aufmuntern wollen. Die in Monotypie erstellten Schriftslogans schaffen mit ihrer einlullenden Zukunftsgewissheit und ihrer aggressiven Überrumpelung einen ironischen Kontrast.

Christian Pilz aus Berlin  legt uns eine Serie von Blätter vor,  Dokumentationen einer Versuchsanordnung. Eine Verbindung von konzeptueller und grafischer Kunst. Nicht allein das Endergebnis zählt, sondern auch der Weg dahin. Holzdrucke, die aussehen, als habe er eine Unzahl von Streichhölzern – zuerst 500, dann 1000, dann 2000, dann 3500 in zufälliger Verteilung aufs Papier geworfen. Ja, so hat er es tatsächlich gemacht.  Sie berühren sich oder auch nicht, überkreuzen sich.  Diese Wurfergebnisse wurden auf eine Holzplatte übertragen und als Holzschnitt gedruckt. Das folgende Blatt zeigt eine höhere Verdichtung, das nächste nimmt an Schwärzung weiter zu und so weiter.  Ein künstlerisches Projekt, das aus einer mathematischen Fragestellung hervorzugehen vorgibt: der Ermittlung der Kreiszahl Pi mittels eines künstlerischen Verfahrens. Lassen Sie sich darauf ein, hinterfragen Sie es, diskutieren Sie.  Hier wird das althergebrachte Druckverfahren  mit einer uralten mathematischen Fragestellung verbunden. Das Ergebnis lässt uns im Unklaren, ob wir einer genialen Versuchsanordnung beiwohnen oder ob alles nicht so ernst gemeint ist.

Sebastian Speckmann, der vielen noch von der letzten Triennale bekannt ist,  frappiert uns einmal mehr mit seinen großformatigen Linolschnitten. Wenn er  wabernde Dämpfe in einem Tannenwald oder Unschärfeschleier  über einer Hauslandschaft in dem dafür eigentlich inadäquaten Medium des Linolschnittes zum Thema wählt und  durch feinste Sticheleien mit dem Hohleisen fast pointillistisch ausführt, dann könnte man  ihn einen Handwerks-Besessenen nennten, wenn er nicht auch noch eine raffinierte inhaltliche Botschaft in seine Bildgestaltungen hineinverrätseln würde. Wie schafft man solche zarten Verläufe im Hochdruck, der doch nur die Farbe tragende erhabene Fläche und die keine Farbe tragende tiefe Fläche kennt? Nur Schwarz und Weiß, da gibt es kein Grau dazwischen.  In der Theorie. Doch, Sebastian Speckmann schafft das, er sticht feinste Löcher oder auch Linien in die Linolplatte und macht sich somit die optische Täuschung der Rastertechnik zunutze, die uns je nach Dichte der gestochenen Punkte die Fläche als hell- oder dunkelgrau wahrnehmen lässt.

Die ausgewählten, prämiierten Arbeiten widerspiegeln die Vielfalt von Themen und Techniken, aber auch die weiter bestehende Geltung traditioneller Techniken, die mit fotografischen und digitalen Hilfsmitteln erweitert werden. Traditionelle und fotografische, digitale Verfahren verbinden sich zu neuen Methoden in der sich schnell erneuernden Welt der Druckgrafik. Fotografie, traditionelle Druckverfahren, digitale Bearbeitung, Zeichnung, Collage, Malerei, in dieser Ausstellung treffen sie alle aufeinander.

Ich wurde immer mal wieder gefragt: Warum unterzieht sich eine Künstlerin, wie Tina Wohlfarth beispielsweise, der viele Tage anhaltenden Mühe, eine blanke Kupferplatte mit einem Wiegemesser in Kreuzschraffuren zu überziehen und damit aufzurauen, um ihr sattes Mezzotinto-Schwarz hinzubekommen?  Kaum einer macht so etwas heutzutage noch.  Ich glaube, sie ist die einzige in unserer Ausstellung. Warum? Wo doch heute digitale Verfahren Raster mit einem Mausklick simulieren können? Aber das scheint nur so. Es ist nicht das Gleiche. Das tiefe Schwarz eines Mezzotintoblattes  oder einer dichten Aquatinta bekommen Sie mit keinem unserer heutigen modernen Druckverfahren auch nur annähernd hin.

Druckgrafik, wie ja jeder andere gute Kunstgegenstand auch, lässt sich nicht nur intellektuell erfassen. Wenn sie gut ist,  erschöpft sie sich nicht im Konzeptuellen, und der Rest wäre ausführendes Handwerk oder gar Computertechnik.  Sie ist dann besonders gut, wenn sie uns auf den ersten Blick mit allen unseren Sinnen gefangen nimmt  und nicht wieder loslässt.  Dann mag die intellektuelle Auseinandersetzung beginnen oder die Wertschätzung der Kenner.

Jetzt darf ich noch einmal zu meinem Grafikliebhaber von Daumier zurückkommen. Der kannte sich aus, und die eingehende Betrachtung verschaffte ihm ein gesteigertes sinnliches und intellektuelles Vergnügen. Druckgrafik ist eine Kunst und ein Handwerk, an dem alle Sinne beteiligt sind.  Über das Vergnügen, das unsere Augen beim Betrachten einer Grafik empfinden, wie etwa beim samtenen Schwarz, brauche ich fast nichts zu sagen.  Es gibt ja literarische Gestalten, die sich im Roman (Bergotte in Prousts „Recherche“, Bd. 5) oder in Wirklichkeit noch gebrechlich in eine Ausstellung schleppten, um ein kleines gelbes Mauerstück auf einem Gemälde von Vermeer noch einmal mit ihren schwach gewordenen Augen zu sehen.  Nehmen wir einen seltener beschriebenen Sinn, den Geruchssinn. Ich lernte diese faszinierende Seite des Druckens zum ersten Mal kennen, als mich mein Grafikervater, ich war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, in eine Druckerei mitnahm, der er etwas in Auftrag gab, und mich an einem Tiegel mit Druckerschwärze riechen ließ.  Dieser Duft ging mir nie mehr aus dem Sinn.  Wenn ich die Drucker in einer modernen Druckerei darauf anspreche, in welch herrlichem Duft sie leben, zucken sie mit den Schultern,  als sei ich nicht ganz richtig bei Trost.  Gutenbergs Druckerschwärze wurde vermutlich aus gereinigtem Lampenruß, Firnis und Eiweiß angerührt, heute sind Pflanzenöle, Harze, Mineralöle, Lösungsmittel, Viskositätsstoffe daran beteiligt. Gesund sind die nicht, aber das Ergebnis vermittelt den besonderen Duft, der sich in meinem Duftgedächtnis eingeprägt hat. Das ist die olfaktorische Seite.  Gibt es auch eine akustische? Wenn die von der Gummiwalze auf der Glasplatte flachgerollte Farbe zu sehr schwatzt und glitscht, dann ist zuviel Öl oder Reduxpaste drin, wenn sie zwickt und zwackt, dann ist sie zu klebrig. Sie muss das richtige Mittelmaß von Quatschen haben, das hört man am besten mit geschlossenen Augen.  Und der haptische Sinn? Der wird schon mit dem Anfassen des rauhen Büttenpapiers befeuert, oder mit dem Streicheln über die rauh geschnittene Holzplatte, die dann mit 600er Papier glatt geschmirgelt wird, oder wenn mit dem Handballen, mit seinen natürlichen Schweiß- und Fettanteilen die letzte Wischung auf der Radierplatte vorgenommen wird und dann, zur Verstärkung des Plattentons, noch ein Hauch Farbe aufgetragen wird. Das alles lässt sich nicht mit Worten beschreiben, das lässt sich am besten erleben.

Und daher ist es jetzt am besten, Sie überlassen sich jetzt dem höchst sinnlichen Vergnügen, die Werke dieser Ausstellung mit allen Ihren Sinnen wahrzunehmen und zu genießen.

 

Helmut Kesberg, 3.6. 2018